DEUTSCHER BUCHPREIS AN ANNE WEBER
DIE AUTORIN schreibt ZWEISPRACHIG
Anne Weber, geb. am 13.11.1964 in Offenbach am Main, lebt seit 1983 in Paris. Bild: srf.
Anne Weber erhält für ihr Werk Annette, ein Heldinnenepos
den Deutsche Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman 2020.
Annette Weber wollte keine Biographie schreiben, weil sie sich nicht als Historikerin verstand. Sie wollte aber auch keinen Roman im üblichen Sinne verfassen, weil das bedeutet hätte, dass sie zur Handlung allerhand hinzugedichtet hätte. Sie entschied sich deshalb für den Roman im Sinne des Hochmittelalters, für das Versepos. Diese Literaturform erleichterte ihr die nötige Distanz zur Heldin, mit der sie persönlich bekannt war und der offensichtlich ihre Sympathie galt.
Es handelt sich natürlich um ein modernes Epos; es ist in freien Rhythmen gehalten, die nicht weit von der Prosa entfernt sind. Die Zeilen können jedoch schon als Verse gelesen werden; diese sind meistens sechsfüßig, manchmal auch fünffüßig und seltener vierfüßig. Sie erinnern von fern an den Hexameter oder an einen frei gehandhabten Blankvers. Die Wahl des Epos als Form begründet Anne Weber, wie erwähnt, mit dem Verzicht darauf, wie in einem Roman den Inhalt mit Erdachtem anzureichern. Natürlich erfährt dieses Werk dadurch auch eine Verdichtung, indem es sich auf die wichtigen Ereignisfolgen im Leben der Heldin beschränkt. Das Geschehen wird dabei immer wieder durch Kommentare der Erzählerin unterbrochen, so dass der Leser nicht in Versuchung kommt, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, sondern sie – wie im epischen Theater – von außen zu sehen, manchmal auch kritisch und verwundert, meistens aber mit respektvollem oder bewunderndem Wohlwollen.
Das Buch erzählt die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir. Die Familienverhältnisse, in welche sie hineingeboren wird, bilden einen geeigneten Nährboden, wenn auch nicht eine ausreichende Begründung dafür, was aus der Heldin wird. Ihr Vater, Inhaber eines Fahrradgeschäfts und ehemaliger Radprofi, wenn auch nur in der Rolle eines Domestique, heiratet gegen den Willen seiner Mutter, der Witwe eines Notars, ein armes Mädchen, dessen früh verwitwete Mutter die Familie durchbringt, indem sie Fische verkauft, die sie ohne Boot gefangen hat. Annettes Vater ist "bedächtig und gelassen", ihre Mutter "redefreudig-wuselig" und mit einem empfindlichen Gerechtigkeitssinn ausgestattet, eine gute Erzählerin, wenn auch mit einem emotionalen Defizit: Annette wird nie von ihr geküsst, das holt erst die Mutter der Mutter nach, die zwar Analphabetin ist, dafür aber Herzensbildung hat. Annette bringt ihr das Lesen und Schreiben bei, das sie in der staatlichen Schule eben gelernt hat; mit ihr zusammen erschließt sie sich die Welt der Bücher.
Annette wendet sich bereits als Jugendliche dem Sozialismus zu, weil dieser den Faschismus Francos in Spanien und den Nationalsozialismus bekämpft. Nach der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen wird sie Widerstandskämpferin und rettet unter Lebensgefahr zwei jüdische Kinder. 1942 schließt sie sich der Kommunistischen Partei an.
Ein Leitthema dieses Epos ist die Demontage von Mythen und die Enttäuschung – diese im geläufigen Sinne und in der wörtlichen Bedeutung, der Desillusionisierung. Die französische Widerstandsbewegung stellt sich als zahlenmäßig ziemlich unbedeutend heraus; Marseille wird im wesentlichen von französischen Truppen befreit, die vor allem aus in den Kolonien zwangsrekrutierten Algeriern, Marokkanern und Schwarzafrikanern bestehen. Nach dem Kriegsende gibt es wilde Säuberungen mit viel Selbstjustiz.
General de Gaulle, der "General von Gallien", das Symbol des französischen Freiheitskampfes, zieht in Marseille ein und überragt nicht nur alle mit seinem Prestige und seiner Körpergröße, sondern blickt auch über fast alle hinweg. Dreizehn Jahre später schickt sich derselbe de Gaulle an, den Algeriern, deren Land zwar als ein Teil Frankreichs gilt, die aber dennoch keine Franzosen sein sollen, ihre Freiheit von Frankreich vorzuenthalten. (Der historischen Vollständigkeit sei daran erinnert, dass es derselbe de Gaulle war, der schließlich realpolitisch die französische Kolonialherrschaft in Nordafrika beendete.) Die beiden berühmt-berüchtigten Sätze de Gaulles nach seiner neuerlichen Machtübernahme werden durch einen Zeilensprung auseinandergerissen und dadurch sowohl hervorgehoben als auch entzaubert. Dazu kommt der ziemlich despektierliche Vergleich mit einem Korkenzieher:
1958 dauern die "Ereignisse" nun schon vier Jahre an,
und weil nichts besser wird, soll einer helfen, der
schon einmal half, de Gaulle, und Frankreich retten
in der Not und das französische Algerien. In Algier
hebt er seine langen Arme in die Luft wie einer
dieser zweihebeligen Korkenzieher und zieht
erst mal noch keine Zahl und keinen Korken,
sondern ruft vom Balkon des General-
gouvernements seinen berühmten Satz: Je vous ai
compris! Ich habe euch verstanden, der seinerseits
nur schwer verständlich oder zumindest
missverständlich ist. Weniger missverständlich ist
der zweite, nicht minder legendäre Satz, Vive
l'Algérie française!, den er zwei Tage später spricht.
Zurück zur Protagonistin. Nach dem Kriege löst sich Annette unter dem Einfluss von Arthur Koestlers Sonnenfinsternis vom Kommunismus, in dessen Namen in der Sowjetunion längst eine despotische Diktatur errichtet worden ist. Sie wird Ärztin, heiratet und gründet eine Familie.
In den Fünfzigerjahren unterstützt sie den Freiheitskampf des FLN gegen die französische Kolonialmacht; sie wird in Frankreich verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Nach der Geburt einer Tochter gelingt ihr die Flucht nach Tunis. Auch hier macht sie die Erfahrung, dass eine revolutionäre Bewegung bald einmal zu dem wird, was sie bekämpft hat, nämlich eine brutale Organisation, die Terror ausübt. Abweichler und „Verräter“ werden gefoltert oder liquidiert. Anne Beaumanoir wird immerhin als Ministerin im Gesundheitsministerium Mitglied zunächst der provisorischen und dann der regulären Regierung Algeriens unter Ben Bella. Auch in diesen Jahren folgt sie ihrer zentralen Lebensmaxime: Sie gehorcht dem „Gebot des Ungehorsams.“
Die eingangs erwähnte Sicht von außen lässt es auch offen, ob Annette in der Mitte der Fünfzigerjahre "eigentlich erhofft", dass "irgendwas dazwischenkommt", was ihr bürgerliches Leben unterbricht, oder ob sie vielmehr aus dem erfüllten Glück des Berufs- und Familienlebens herausgerissen wird.
In Algerien ist jedenfalls in den Fünfzigerjahren viel los. Die Widersprüche der französischen Kolonialpolitik werden drastisch, vielleicht sogar genüsslich dargestellt.
Denn nicht zu Unrecht
fragen sich die Einwohner dieser drei Départements -
die allermeisten, neun von zehn -, warum sie
eigentlich in Frankreich wohnen, wenn sie gar nicht
Franzosen sind. Franzosen sind in Algerien natürlich
die Franzosen, also die irgendwann aus Frankreich
Eingewanderten ...
Im Gegensatz etwa zu Brecht vermittelt die Autorin jedoch keine politische Botschaft und schon gar nicht irgendeine Ideologie; wie letztlich auch die Heldin, welche sie darstellt, lässt sie sich nicht politisch vereinnahmen. Die Botschaft ist eine allgemein menschliche: Ein erfülltes Leben ist ein stetes Streben nach einem hohen Ziel, nach der Gerechtigkeit; dabei können nur Teilerfolge oder Erfolge auf Zeit erzielt werden.
Ideal, Wunschtraum, Ziel, ersehntes, unvorhandnes
Land der Zukunft, gibt es dich noch, bist du da?
- Hier bin ich, hier! Ein Stimmchen antwortet getreu
wie eine ewige, in unsichtbarer Ferne flackernde Flamme.
Das Scheitern ist zutiefst menschlich:
Der Kampf, das
ausdauernde Plagen und Bemühen hin zu
großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz
zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten
glücklich vorstellen.
Anne Weber ist eine merkwürdige Erscheinung im Literaturbetrieb. Sie wuchs in Offenbach auf und studierte nach dem Abitur in Paris. Dort blieb sie dann hängen. Sie übersetzte viele Bücher vom Französischen ins Deutsche oder vom Deutschen ins Französische. Seit 1998 hat sie ihre eigenen Werke herausgebracht, meistens sowohl in einer französischen als auch in einer deutschen Fassung.
„Der Übersetzer wird von jeder Unschärfe und jeder offenen Frage wie am Hosenbein festgehalten. Indem er die Mehrdeutig- und Eigenwilligkeiten, die Rhythmen, Klangvorlieben und Obsessionen des Autors auslotet, lernt er ihn langsam kennen; am Ende weiß er mehr von ihm oder ihr als dessen Ehefrau oder Ehemann. Wenn er nicht aufpasst, geht er langsam in ihn über: Die Autoren sind Kannibalen und fressen gerne ihre Übersetzer. Wie soll auch das Übersetzen gelingen, so lange man stur auf seiner Persönlichkeit beharrt? Der Übersetzer ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit einem Schauspieler, insofern er ein fremdes Werk verkörpert, ihm einen neuen Sprachkörper verleiht.“ (Dankesrede für den Johann-Heinrich-Voß-Preis, 2016, zitiert nach Wikipedia)
Auf der folgenden Seite sind die deutsche und französische Version eines Textausschnittes einander gegenübergestellt. Sie sind nicht inhaltlich nicht ganz deckungsgleich: Einer der französischen Sätze hat auf Deutsch keine Entsprechung:
Die Mutter ihrer Mutter ist im 19. Jahrhundert in der Bretagne, also gewissermaßen noch zwei Jahrhunderte zuvor geboren, als eines vieler Kinder habeloser Bauern, die ihre Kinder nicht ernähren können und sie daher eins nach dem anderen bei Reicheren in Dienst geben. Die kleine Kuhmagd ist sehr arm. Lange Zeit trägt sie - o Schock später für ihre kleine Enkelin! - keine Unterhose. Sie hatte keine. Schlief im Stroh. Ihr Jahreslohn war ein Paar neue Holzschuhe, und alle zwei Jahre gabs entweder einen Umhang und dazu ein Paar Strümpfe oder auch einen Rock und eine Jacke, was deshalb schon kein Luxus war, weil sie noch gar nicht ausgewachsen war. Sie ging nie zur Schule. Illettré sagt man dazu, wenn eine ihresgleichen oder einer weder des Lesens noch des Schreibens kundig ist. Mit fünfzig Jahren wird ihr erstmals klar - Annette ist vielleicht sieben - , dass sie von ihrer Mutter nie einen Kuss bekam, und sie, die bisher nie geklagt hat, bricht in Tränen aus. So sitzen sie, Großmutter und Enkelin, und küssen sich und küssen sich und küssen sich und weinen. Von ihrem Vater weiß sie nur, wie grob er war. Ihre Geschwister, Kinderknechte und -mägde wie sie selbst, erwähnt sie nie, sie sind vielleicht inzwischen tot oder verschollen oder sie leben in der Nähe. Annette liebt über alles diese Großmutter, die reich ist nicht an Gütern und gebildet nicht durch Lektüren. |
Sa grand-mère maternelle est née au dix-neuvième
Sa grand-mère maternelle est née aux dix-neuvième en Bretagne (autrement dit plutôt au dix-septième) de parents crève-la-faim qui n'arrivent pas à nourrir leurs enfants et les placent donc les uns après les autres chez de plus prospères paysans. La petite vachère est pauvre. Longtemps elle se promène sans culotte ; pour sa petite-fille plus tard un sacré choc. Elle n'en a pas. Dort dans la paille. Son salaire annuel consiste en une paire de sabots plus, une année sur deux, soit une capuche et des chaussettes soit une veste et un jupon, ce qui n'est pas du luxe, entre autres parce qu'elle est encore loin d'être grand-mère, au point de n'avoir même pas fini de grandir. L'école, elle n'y va pas. Illettrée, dit-on, étant donne qu'elle manque de lettres ; elle en manque moins, toutefois, que d'habits et de pain. A cinquante ans, elle se rend compte soudain - Annette a environ sept ans - que jamais de sa mère elle n'a reçu un seul baiser et elle, qui jamais ne se plaint, se met a sangloter. Alors elles restent là à s'embrasser, la grand-mère et la petite-fille, et à pleurer pleurer pleurer. De son père, elle ne se souvient de rien. Si. Il était brutal. Elle ne parle jamais de ces frères et soeurs que pourtant elle a eus, garçons et filles de ferme comme elle et aujourd'hui peut-être morts ou disparus ou bien vivants tout a côte. Annette aime plus que tout cette grand-mère riche en autre chose qu'en biens et bigrement instruite par autre chose que des lectures. |
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Weber, Anne. Annette, ein Heldinnenepos. Berlin (Atthes & Seitz) 2020. 208 Seiten, Gebunden. ISBN: 978-3-95757-845-7 |
Weber, Anne. Annette, une épopée. Paris (Seuil, « Cadre rouge ») 2020, 240 pages. ISBN: 978202145042 |
Die Autorin bewegt sich nicht nur räumlich zwischen Deutschland und Frankreich; sie ist in beiden Sprachen und Kulturräumen zu Hause. Diese geistige Doppelbürgerschaft erlaubt es ihr, sich in Menschen hineinzudenken und einzufühlen und die Gesellschaft, in der sie sich jeweils bewegt, besonders wach zu erleben. Diese Wachheit verhilft ihr aber auch zu kritischer Distanz. Dadurch unterscheidet sie sich von ihrer Heldin, die nicht anders handeln kann, als sie es tut, und im Nachhinein von der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung überrascht und ernüchtert wird.
Die Heldin trägt aber ihren Ehrentitel zu Recht, weil sie trotz ihren politischen Enttäuschungen, trotz ihren persönlichen Entbehrungen und schmerzlichen Verlusten sich selbst treu bleibt, standhaft ist und sich nicht verbittern lässt, sondern im Alter Gelassenheit gewinnt. Sie wird, wie erwähnt, in dem Epos mit Sisyphos verglichen, der immer wieder scheitert und doch nicht aufgibt. Eine andere Parallele zieht das Epos zu Odysseus; auch Anne Beaumanoirs Leben erscheint eine rastlose Reise, dies vor allem allerdings deshalb, weil die unspektakulären bürgerlichen Jahre ihres Lebens ausgeblendet werden. Erst als alte Frau kommt sie zur Ruhe, nachdem sie immer wieder einen hohen Preis für ihren Mut gezahlt hat. Zu ähnlich sind jedoch die Lebensläufe nicht; denn die Erfolge und Enttäuschungen der Heldin sind im politischen Bereiche angesiedelt, während Odysseus bekanntlich den Zorn Poseidons dadurch zu spüren bekommt, dass sich sein Leben in seiner persönlichen Irrfahrt erschöpft. rww
Anne Webers Auftritt im Tagesgespräch SRF vom 21.10.2020:
https://www.srf.ch/play/radio/tagesgespraech/audio/anne-weber-gewinnerin-des-deutschen-buchpreises-2020?id=8af9bdaa-7544-4a77-a618-a0d248377f8b