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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
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Neusprachlicher Unterricht an der Volksschule

Frühenglisch und Frühfranzösisch

Frühenglisch und Frühfranzösisch -
Mythen, Hoffnungen und Forschungsergebnisse

Vortrag von Simone Pfenninger an der Unitobler, Bern
Bericht von R. Wyß

Am 13. September 2016 veranstaltete der SKD einen Vortrag von Frau Simone Pfenninger, Dr.phil., die kurz zuvor an der Universität Zürich habilitiert hatte und nun an der Universität Salzburg als Assistenzprofessorin wirkt. Sie referierte als unser Gast über ihre Forschungsergebnisse zu Frühenglisch im Vergleich mit dem herkömmlichen Unterricht.

Veränderungen in der Politik und ihre Auswirkungen auf die Sprachwirklichkeit


Durch die zunehmende weltweite politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verflechtung der Länder wurde Mehrsprachigkeit besonders seit 1989 zunehmend zur Notwendigkeit und Realität, auch europaweit. Gleichzeitig wuchs die Bedeutung des Englischen, zum Teil auf Kosten anderer Sprachen.
Die EU setzte sich 2001 zum Ziel, das Erlernen von mindestens zwei Gemeinschaftssprachen zu fördern, gerade auch im Schulunterricht. Bei der Umsetzung dieses Ziels wurde wesentlich auf eine Verfrühung des Unterrichts gesetzt. Das war auch in der Schweiz der Fall; dabei war klar, dass der neusprachliche Unterricht in einer zweiten Landessprache, in der Regel Französisch oder Deutsch, teilweise auch Italienisch (in GR und UR) beibehalten werden sollte und dass die andere Fremdsprache zwingend Englisch sein musste. Vor einer Aufstockung des Lehrplans an der Volksschule sollte aber der bisherige Fremdsprachenunterricht hinterfragt werden, da dessen Erfolg nicht befriedigte.

Mythen und Hoffnungen
Bei den Überlegungen zu einer Neugestaltung des Sprachunterrichts wurde von einer Reihe von Überzeugungen ausgegangen:

  • Je früher, desto besser: Jüngere Lernende sind „Sprachschwämme“, sie haben die Fähigkeit, „unbewusst Sprachen zu erwerben, sofern sie diese regelmäßig und mit einem reichen sprachlichen Input hören“.(Bildungsrat des Kantons Zürich, 2003)
  • Die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten stehen später automatisch zur Verfügung.
  • Ein früher Beginn erhöht die Lerndauer: „Je länger, desto besser“.
  • Frühes Erlernen einer Fremdsprache hat außersprachlich Vorteile: breiteres Interesse, Offenheit, Toleranz.
  • Die früh angewöhnte positive Einstellung und Motivation bleibt erhalten.

Spracherwerb und Sprachenlernen: Thesen und deren Relativierung
Einen großen Einfluss auf die Fremdsprachendidaktik hatte in den Achtzigerjahren Stephen Krashen. Krashen stellte den natürlichen, unbewussten Spracherwerb, den alle Kinder in ihrer Muttersprache erfahren, dem bewussten Sprachenlernen gegenüber, welchem sich Kinder im Unterricht von Fremdsprachen an den Schulen widmen oder unterziehen. Nach Krashen hat der natürliche Spracherwerb wichtige Vorteile und ist dem bewussten, intellektuellen Lernen einer Sprache überlegen.
Langfristige Vorteile wurden in der neurobiologischen Plastizität des Gehirns in der Jugend gesehen, welche ein schnelleres Lernen erlaube.
Schon in den Siebzigerjahren setzte man in Kanada zur Verbesserung der Französischkenntnisse bei der anglophonen Mehrheit auf Immersionsschulen: Die Kinder lernten einen Teil oder alle Fächer mit Ausnahme von Englisch auf Französisch; das Eintauchen in die Zielsprache begann zwischen dem Kindergarten und der Sekundarstufe. Diese Immersionsschulen gibt es weiterhin, sie sind recht erfolgreich.
Die Thesen von Krashen und andern sind jedoch zu relativieren.
Es gibt kein „kritische Periode“ für den Spracherwerb, wie sie von Lenneberg in seiner These von 1967 formuliert worden ist.
Es gibt jedoch unterschiedliche Zeitgrenzen im Leben für verschiedene Aspekte von Sprache. Die Fähigkeit zum Aneignen einer perfekten („akzentfreien“) Aussprache und Intonation scheint bereits im Kindesalter verloren zu gehen.
Es gibt auch erwachsene Lernende, die es in einer Zweitsprache auf ein hohes Niveau bringen.
Es ist zu beachten, dass Kinder beim Erwerb ihrer Muttersprache von günstigen Rahmenbedingungen profitieren: sie sind ständigem und differenziertem Input ausgesetzt, sie haben Umgang mit mehreren Sprechern der Zielsprache in unterschiedlichen Zusammenhängen, sie lernen in spielerischen Situationen, was die Rede verständlicher und kontextbezogener macht, sie nehmen die Zielsprache unbefangen auf(ihre „affektive Reinheit“ verschafft ihnen den Zugang zur Sprache ohne negative Vorurteile), sie haben weniger Hemmungen, genießen aufmerksame Unterstützung der Erwachsenen und haben viel Zeit und Energie zur Einübung.

Frühenglisch und Spätenglisch im Vergleich
Frau Pfenningers Untersuchungen haben ergeben, dass Frühenglisch, so wie es jetzt an Zürcher Schulen durchgeführt wird, keine langfristigen Vorteile bietet.
Das Ziel von Frau Pfenningers Untersuchung ist ein Erfolgsvergleich zwischen dem vor einigen Jahren eingeführten Frühenglisch und dem herkömmlichen Englischunterricht an Zürcher Schulen. Die Studie geht insbesondere der Frage nach, was den frühen Start erschwert, und sucht die Mechanismen zu verstehen, die es Spätlernenden erlauben, so schnell aufzuholen. Frau Pfenninger hat für ihre eigene Untersuchung Gymnasiasten gewählt, weil das die Messung von Langzeitwirkungen erlaubt und den Vergleich ihrer Arbeit mit andern europäischen Studien ermöglicht und weil die zu untersuchenden Gruppen schulisch stark und dadurch ziemlich homogen sind. Die Vergleichsmessungen dieser Langzeitstudie wurden zweimal vorgenommen: 2009 im 7. Schuljahr (nach sechs Monaten Englischunterricht für Spätlernende) und 2014 im 12. Schuljahr kurz vor der Matur. Zudem wurden bei der 2. Messung kurz vor der Matur Stichproben bei Lernenden mit Teilimmersion erhoben (3 Schulfächer, z.B. Mathematik, Biologie und Geschichte, auf Englisch zusätzlich zum regulären Englischunterricht) sowie bei der fünften „Generation“ Frühenglisch im Jahre 2015 (wieder im 7. Schuljahr nach sechs Monaten Englisch). 
Die Ergebnisse der Untersuchungen sind, was den schulischen Rahmen angeht, weitgehend auf Frühfranzösisch in der westlichen Deutschschweiz übertragbar, da Unterrichtsansatz, Stundendotation, Schülerschaft und das Lernalter ähnlich sind. Der Quervergleich ist jedoch mit Vorsicht und Vorbehalt zu ziehen: Zu beachten sind auch Faktoren, welche die Motivation beeinflussen, z.B. das Prestige der Zielsprache oder die Nähe der Sprachgrenze.

Was steht dem erhofften Erfolg von Frühenglisch im Wege?
Das Lehrmittel auf der Primarstufe, in der Regel ist es im Kanton Zürich First Choice , ist themen- und handlungsorientiert (CLIL = Content and Language Integrated Learning). Es fördert implizite Lernprozesse, die Kinder sollen sich also auf Englisch mit Inhalten befassen, die sie interessieren; explizites Lernen wird vermieden, es wird also nicht versucht, durch die Vermittlung von Regeln (Grammatik, Rechtschreibung) das Lernen zu steuern und zu beschleunigen.

  • Ein Hauptgrund dafür besteht in der geringen Stundendotation. Damit sind die Voraussetzungen für eine Annäherung an den natürlichen Spracherwerb schon nur durch den geringen zeitlichen Kontakt mit der zu lernenden Sprache bei weitem nicht gegeben. Ein impliziter, themen- und handlungsorientierten Ansatz (CLIL) verlangt viel Zeit, die zwei bis drei Wochenstunden reichen dazu nicht aus. Konzentrierter Unterricht über kürzere Zeit bringt mehr Erfolg als ein reguläres „Kurzfutterkonzept“: Intensität übertrumpft Quantität. Frühenglisch ist letztlich ineffizient, es wird zwar stets dazugelernt, aber auch stets viel vergessen.  Am besten schneidet die Kombination von explizitem Lernen und Elementen des Immersion ab, bei der einzelne Fächer in der Fremdprache unterrichtet werden. Das geht übrigens nicht auf Kosten der Fachkenntnisse, und frühe Immersion scheint keine bessere Wirkung zu haben als späte Immersion.
  • Dem gewählten Ansatz fehlt bald einmal die Verankerung der Fertigkeiten in der Kenntnis von Regeln. Da die Zeit, die für die Fremdsprache zur Verfügung steht, sehr begrenzt ist, kommt man auch an der Primarschule um bewusstes, kontrolliertes Lernen nicht herum.
  • Die Anforderungen des ausgeweiteten Fremdsprachenunterrichts an die Lehrer der Primarstufe sind groß. Wie es im Kanton Zürich und in der deutschen Schweiz mit den Sprachfertigkeiten der Primarlehrer aussieht, ist schwer abzuschätzen.
  • Dazu kommen natürlich Kohorteneffekte, wie Klassengröße, Klassenzusammenstellung und  Einfluss der Mitschüler. (Das gilt allerdings, wenn vermutlich auch in geringerem Maße, für ältere Lernende.)
  • Eine weitere bedeutende Schwäche weist die bisherige Umsetzung von Frühenglisch dadurch auf, dass die Lernenden auf der Sekundarstufe bisher nicht auf geeignete Weise abgeholt, sondern mit den Anfängern zusammen unterrichtet werden sind. Die Lernenden mit Frühenglisch haben zunächst Vorteile vor allem im Wortschatz, doch nach einem Jahr ist gegenüber den Spätanfängern, die erst im 7. Schuljahr mit Englisch begonnen haben, keine signifikanten Unterschiede mehr feststellbar.

Dagegen weist der bisherige späte Einsatz des Englischunterrichts Vorteile auf, die nicht unterschätzt werden dürfen. Die Spätlernenden kommen zu einem Kickstart:

  • Englisch ist fär alle in im 7. Schuljahr nicht mehr ganz neu, sie sind auf vielfältige Weise schon mit der Sprache in Berährung gekommen und haben vieles aufgeschnappt. Sie sind Scheinanfänger, false beginners.
  • Die fortgeschrittenen Deutschfertigkeiten auf dieser Stufe samt dem theoretischen Unterbau, also der Grammatik, kommen den Lernenden zugute. Sie können vieles, was sie im Deutschen gelernt haben, auf das Englische übertragen.
  • Die hohe Motivation fürs Englische, die sich aus dem hohen Prestige der Sprache ergibt, hilft zusätzlich. Die Motivation ist für den Lernerfolg wichtiger als das Alter der Lernenden.

Fazit und Empfehlung
Die besten Ergebnisse sind zu erwarten, wenn einerseits mit einem reichen Input das implizite Lernen gefördert wird, anderseits jedoch auch explizit vorgegangen wird, d.h. bereits auf der Primarschule Regeln für die Sprache vermittelt werden, also Grammatik und Rechtschreibung. Dazu kommt, dass die Lernenden Arbeits- und Lerntechniken vermittelt bekommen und dadurch selbständiger werden.
An der Schnittstelle zwischen Primar- und Sekundarschule sollten Reibungsverluste vermieden werden. Spätestens dann, wenn alle Sechstklässler Frühenglisch gehabt haben, sollte ein fließender Übergang zur Sekundarstufe selbstverständlich geworden sein. Ein Angebot auf der Sekundarstufe 2, also an Gymnasien und Berufsschulen, einzelne Fächer auf Englisch oder Französisch vermittelt zu bekommen, wäre gewiss hilfreich. Allerdings ist die Voraussetzung dafür, dass die Fachlehrer auch sehr gut Englisch oder Französisch können.
„Die Forschung spricht sich nicht per se gegen den frühen Fremdsprachenunterricht aus, aber die Erwartungen müssen realistisch sein bezüglich der erwänschten Zwei- und Mehrsprachigkeit.“ Ungünstige Umstände des Fremdsprachenlernens können mit einer Berücksichtigung des Altersfaktors (gleich welcher Art!) nicht wettgemacht werden.
Frühenglisch und Frühfranzösisch sind auch ein Politikum. Frühdeutsch vom 3. Schuljahr an ist seit geraumer Zeit im Welschland nicht mehr umstritten; in der deutschen Schweiz hat sich eine Teilung ergeben, indem die westlichen Kantone wegen der Nähe des nachbarlichen Sprachgebietes fürs Frühfranzösisch entschieden haben, die meisten andern Kantone jedoch für Frühenglisch. Verständlicherweise erwarten die Welschen, dass in der deutschen Schweiz der Französischunterricht mindestens schon in der 5. Klasse einsetzt.
Die Schwierigkeit des Auftrags an die Primarschule, neben der sprachlichen und Integration fremdsprachiger Kinder in den Unterricht überhaupt die Vermittlung von Englisch und Französisch zu bewältigen, wurde nur gestreift. Dieses Thema hätte den zeitlichen und inhaltlichen Rahmen des Vortrages deutlich gesprengt.
Nach dem Vortrag beteiligte sich ein aufmerksames Publikum mit Fragen und Diskussionsbeiträgen an dem Anlass.

(Mitteilungen 1/2017, 22-27)


Pfenninger, Simone E. and Singleton, David. Beyond Age Effects in Instructional L2 Learning: Revisiting the Age Factor. Boston (Multilingual Matters) 2017. (Das Buch erscheint voraussichtlich am 30. April 2017.)

Krashen, Stephen D. Second Language Acquisition and Second Language Learning. Oxford, Pergamon 1981.

Lenneberg, Eric Heinz. Biological Foundations of Language. New York: John Wiley & Sons, 1967.

Littlejohn Andrew et al. First Choice. Zürich (Lehrmittelverlag Zürich) 2006.

Im Lehrplan des Kantons Zürich sind pro Woche nur zwischen 2 bis 3 Lektionen für den Englischunterricht bestimmt, d.h. auf der Primarstufe insgesamt 8-11 Lektionen.In andern Kantonen sind die Verhältnisse ähnlich. Im Kanton Bern gibt es in der 3. und 4. Klasse je 3 Wochenstunden Französisch, in der 5. und 6. Klasse je noch 2, insgesamt also 10. (Anm. R.W.)

Das ist übrigens nichts Neues. An Schulen in Irland, welche die Nationalsprache besonders fördern wollten, wurden schon in den Sechzigerjahren einzelne Fächer wie Geschichte und Geographie auf Irisch (Gälisch) unterrichtet. (Anm. R.W.)

Appenzell Innerrhoden finanzierte den Primarlehrern Englischunterricht samt einem dreimonatigen Sprachaufenthalt zur Erlangung des First Certificate. Heute kann davon ausgegangen werden, dass in AR alle Lehrer dieses Niveau erreicht haben. (Anm. R.W.)

Graubünden stellt einen Sonderfall dar. Es hat sich für Frühitalienisch entschieden, was aufgrund der Sprachgeographie sinnvoll ist. Vereinzelt gibt es auch Frühromanisch; durch den Zusammenschluss von deutschen und romanischen Gemeinden und Schulverbänden ist die Situation unübersichtlich geworden. (Anm. R.W.)

 

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