DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIKDie mehrsprachige Schweiz
Aus den Mitteilungen vor über dreissig Jahren:
An der Jahresversammlung 1988 hielt Denis Barrelet, der Neuenburger Jurist, Journalist und Professor für Kommunikationsrecht in Freiburg und Neuenburg, ein Referat, das auch jetzt noch lesenswert ist. Barrelet war in Bern aufgewachsen und hatte die Maturprüfung abgelegt. Er sprach deshalb auch Berndeutsch und war perfekt zweisprachig. Er konnte deshalb die Schweizer Sprachlandschaft sowohl als Deutschschweizer als auch als Welscher beurteilen. Er ist leider schon 2007 im Alter von 62 Jahren gestorben.DIE SPRACHE(N) DES DEUTSCHSCHWEIZERS AUS WELSCHER SICHT
von Denis Barrelet (Mitteilungen 4/1988, S. 1-3)
Entstehung der sprachlichen Lage in der deutschen Schweiz
Der Schwabenkrieg von 1499 führte nicht nur zu einer faktischen Lösung der alten Eidgenossenschaft aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, sondern auch dazu, dass die Schweizer ein starkes sprachliches Selbstbewusstsein entwickelten. Daher näherte sich die Schweiz der Standardsprache, die sich im Reiche auf der Grundlage von Luthers Bibelübersetzung entwickelte, erst mit großer Verzögerung an; aber im 18. Jahrhundert gehörten Leute wie die Zürcher Bodmer und Breitinger und der Berner Albrecht von Haller zu den Wegbereitern der modernen deutschen Sprache und Literatur. Die Hochsprache fand jedoch nicht als Umgangssprache Eingang; Ansätze dazu gab es gegen 1900 in Zürich. Damals wurde von der Sprachwissenschaft die These vertreten, dass das Nebeneinander von Dialekt und Hochsprache auf die Dauer nicht möglich sei.
Für die Welschen ergeben sich aus dem Gesagte zwei Erkenntnisse:
- Es gab nie eine „idyllische“ Zeit der sprachlichen Homogenität in der deutschen Schweiz.
- Der Dialekt ist aber auch der Preis dafür, dass sich die Schweiz als souveräner Staat behauptet hat.
Seit den 1960er Jahren rollt nun die dritte Mundartwelle im Fernsehen, in der Werbung, in Reden und Predigten. Welches sind die Gründe dafür? Durch den Gebrauch der Mundart bekennen sich die Deutschschweizer zu ihrer Identität, zu ihrer Verwurzelung in der eigenen Kultur. Sie stellen damit auch die Autorität von Schule, Kirche und politischen Behörden infrage.
Die Gefahren der Mundartwelle
Der Referent begegnet zwar wie viele Welsche dieser Liebe zur Mundart mit Sympathie, er gibt aber zu bedenken, dass der Vormarsch der Dialekte in den letzten Jahrzehnten Gefahren in sich birgt, zunächst einmal für die Deutschschweizer selbst:
- Ihnen droht eine Absetzung vom deutschen Kulturleben im übrigen Europa: Wenn die Schweiz daran weniger Anteil nimmt, schwindet auch ihr Einfluss darauf.
- Es besteht auch die Gefahr, dass sich die Dialekte vereinheitlichen und damit gerade die sprachliche Vielfalt, auf die wir so stolz sind, verloren geht.
Das Übergewicht der Mundart belastet überdies das Zusammenleben von Deutsch- und Welschschweizern:
- Welsche begegnen Deutschschweizern oft unfreundlich, weil sie sich als Angehörige einer Minderheit – zu Recht oder zu Unrecht – bedroht fühlen. Diese reservierte Haltung wird durch das Sprachenproblem wesentlich mitbestimmt und durch das heutige Sprachverhalten der Deutschschweizer verschärft. Welsche lernen in der Schule Deutsch, können ihre mit harter Arbeit erworbenen Sprachkenntnisse aber in der deutschen Schweiz nicht anwenden: sie fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Der Welsche fühlt, dass die Deutschschweizer das Hochdeutsche nicht gerne brauchen, sondern ihren Miteidgenossen ein Opfer bringen, und das beeinträchtigt die Verständigung.
- Der zunehmende Gebrauch des Schweizerdeutschen gefährdet den staatlichen Zusammenhalt. Als Beispiel mögen die neuen Genfer Gruppierungen dienen, welche das Deutsche als obligatorische Fremdsprache in der Schule abschaffen und gar Genf aus der Schweiz herauslösen wollen. Der Gedankengang ist symptomatisch: Wenn man sich von der Sprache abwendet, wendet man sich auch von der betreffenden Sprachregion und damit von der Schweiz ab. Durch eine solche Abkapselung würde zwar gerade die französische Schweiz am meisten verlieren; diese Entwicklung ist aber dennoch denkbar. Vielleicht werden die Welschen, indem sie sich von der Schweiz ab- und Europa zuwenden, zu einer geistigen (nicht politischen) Provinz Frankreichs.
- Die Deutschschweizer ziehen sich nicht nur weitgehend auf den Dialekt zurück, sondern interessieren sich auch weniger fürs Französische. Die Französischkenntnisse sind in der Schweiz drastisch zurückgegangen.
Was ist zu tun?
Englisch als Lingua franca?
Wie wäre es mit Englisch als Sprache der Verständigung? In manchen Banken, Industrieunternehmen und Handelsgesellschaften ist das Englische heute schon Geschäftssprache. Auch Gymnasiallehrer und Journalisten unterhalten sich über die Sprachgrenze hinweg auf Englisch. Alfred Defago vom Bundesamt für Kulturfragen meint dazu, das müsse man hinnehmen. Aber das Englische würde die Schweizer für einander verfremden und damit einander entfremden. Die Gefühlsbindungen würden gelöst. Wie Bundesrat Cotti zu Recht gesagt hat, setzt das Zusammenleben der Schweizer sowohl ein Bewusstsein der eigenen Identität voraus als auch eine über das Oberflächliche hinausgehende Kenntnis der Identität der andern.
Was sollen die Deutschschweizer tun?
- Der Dialekt hat im Unterricht an unseren Schulen keinen Platz. Die Hochsprache soll nicht nur an den Gymnasien und Hochschulen gepflegt werden, denn die Verständigung zwischen Deutsch und Welsch darf nicht einer Elite vorbehalten sein.
- Auch der Französischunterricht muss verbessert werden. Die Torpedierung des Frühfranzösischen in der Ostschweiz ist eine Schande.
Was sollen die Welschschweizer tun?
- Sie müssen den Deutschunterricht an den Schulen verbessern. Immerhin wird vom neuen Schuljahr an in der ganzen französischen Schweiz von der vierten Klasse an Deutsch gelehrt und gelernt.
- Psychologische Schranken müssen durch Schüleraustausch, Praktiken usf. abgebaut werden. Dadurch würde auch eine gewisse Überheblichkeit, die man bei Welschen noch recht oft antrifft, zum Verschwinden gebracht.
Bericht von rww
Mittlerweile hat sich gezeigt, dass Frühfranzösisch eher ein Politikum als ein Königsweg zu mehr Sprachkompetenz der Deutschschweizer in Französisch ist. Einerseits ist das teure Lehrmittel Mille-feuille nach Meinung einer Mehrheit von Lehrerschaft und Eltern gescheitert, anderseits hat Simone Pfenninger nachgewiesen, dass Frühfranzösisch unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit besser Französisch sprechen. Seit 1988 hat die Zeit nicht stillgestanden, auch die Bemühungen um effektiveres Sprachenlernen in der Schule sind nicht erlahmt. Es gibt doch schon einige gute Ergebnisse zweisprachigen Unterrichts. Vieles im Referat von 1988 ist aber immer noch aktuell.